Unter Kinderromanen verstehen wir alle romanhaften Darstellung der Kinderliteratur, die sich an ein Zielpublikum von etwa 8 bis 12 Jahren richten. Zumeist beschreiben moderne Kinderromane eine realistische Welt und setzten sich mit ihr auseinander. Streng genommen verzichten diese Geschichten auf fantastische Elemente. Es gibt jedoch auch Ausnahmen, wie Christine Nöstlingers “Die feuerrote Friederike” sodass jeder Text spezifisch betrachtet werden muss.
Kinderromane sehen der Realität ins Auge. Sie trauen den Heranwachsenden viel zu und beschönigen nichts, sondern nennen die Dinge beim Namen. Das war nicht immer so und ist es auch heute nicht in jedem Fall. Dass wir Kindern jedoch mehr zutrauen können und dürfen, damit beschäftigt sich dieser Artikel.
Inhaltsverzeichnis
Der Sommer, in dem einfach alles passiert ist
Am Beispiel des Kinderromans „Der Sommer, in dem einfach alles passiert ist“ von Iben Akerlie, der im Jahr 2024 Friedrich Oetinger Verlag erschienen ist, gehe ich auf die gewählte Thematik, Erzählperspektive und die Darstellung von Familienkonstellationen im Kinderroman näher ein.
Der Verlag gibt als Zielgruppe Kinder im Alter ab 10 Jahren an. Mein persönlicher Leseeindruck ist, dass das Alter etwas zu niedrig angesetzt wurde und das Buch trotz des sehr farbenfrohen und verträumt wirkenden Covers eher ab 12 Jahren zu empfehlen ist. Dies ist definitiv keine leichte Skandi-Sommerlektüre für verträumte Mädchen, wie es in der Verlagsbeschreibung nachzulesen ist.
Zum Inhalt
Die Protagonistin Nora soll den Sommer bei ihrer Oma auf dem Land verbringen, obwohl sie diese kaum kennt. Ihre Eltern werden während der Sommerferien kaum Zeit für Nora haben, weshalb ein Urlaub auf dem Land die bessere Alternative zu sein scheint.
Nora ist wenig erfreut und geht nur unter Protest. Doch dann lernt sie Abbas kennen und Nora entdeckt die erste Liebe. Aber da gibt es noch Dorrit, eine Frau aus dem Dorf, die sich Abbas gegenüber feindselig verhält. Durch Abbas erfährt Nora, was Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind. Sie gerät in eine Situation, in der sie sich für Abbas einsetzen muss, doch zuerst scheitert sie an ihren eigenen Ängsten.
Noras Großmutter, deren Geschichte die Hauptfigur allmählich entdeckt, wird eine Art Wegweiserin, denn die Journalistin hat in Afghanistan über den Krieg geschrieben. Nora begibt sich in den alten Zeitungsartikeln auf Spurensuche und entdeckt, wie eng die Geschichte ihrer Oma mit der von Abbas‘ Familie verknüpft ist.
Perspektive
Die Geschichte wurde in der Ich-Perspektive (homodiegetisch) geschrieben und bindet dadurch die Leser:innen eng an die Hauptfigur Nora. Man erfährt ihre Gedanken, ihre Hoffnungen und Ängste unmittelbar und ungefiltert.
Die Autorin verzichtet auf einen Perspektivwechsel, wodurch die Perspektivwahl einerseits ein sehr direktes Erleben möglich macht, zeitgleich eine gewisse Limitierung gegeben ist. So fehlte die Sichtweise von Abbas und ließ sich nur indirekt über die Beobachtungen von Nora herleiten.
Für einen Kinderroman entspricht die Ich-Perspektive einer üblichen Erzählform, die nach meiner Beobachtung umso dominierender wird, desto mehr man sich dem Jugendroman annähert. Die Lesenden schlüpfen förmlich in den Kopf der Romanfigur, erleben die Geschichte sehr intensiv mit und identifizieren sich mit ihr.
Eine andere, ebenfalls übliche Erzählform wäre die aus der Personalen, also heterodiegetisch. Dies hätte im vorgestellten Roman zwar einen größeren Überblick auf den Handlungsraum ermöglicht, jedoch auch eine größere Distanz zur Figur mitgebracht. Der Handlungsort jedoch rückt in der Geschichte in den Hintergrund. Es geht nicht um Norwegen oder das Dorf als solches, sondern um das Erleben von Unrecht, Diskriminierung, Schuld, Mut und dem Erleben der ersten Liebe.
Darstellung von Familienkonstellationen
Die Familiensituationen sind äußerst vielschichtig beschrieben und eröffnen einen zusätzlichen differenzierten Blick auf die Lebenswirklichkeit junger Leser:innen. Zum einen ist da die Protagonistin Nora, die mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater, den sie nur Truls nennt, und ihrem ein Jahre alten Bruder Thilo, in der Stadt lebt.
Auf dem Land lebt ihre Großmutter, die sie kaum kennt, denn ihre Mutter versteht sich nicht gut mit ihr. Die Gründe bleiben offen, können aber durch die häufige Abwesenheit durch die Auslandseinsätze der einstigen Journalistin begründet sein. Ein Großvater wird nicht erwähnt.
Abbas lebt mit seinem Vater und seinem Bruder zusammen. Seine Mutter ist vor Jahren gestorben. Er glaubt, es wäre ein Herzinfarkt gewesen. Eine Lüge, die sein Vater ihm erzählt hat, um ihn vor der Wahrheit zu schützen. Nora ist sehr betroffen, dass Abbas keine Mutter hat.
Hoffnungsvolles Ende
Die Familien, die anfangs alle für sich in einem eigenen Raum gelebt haben, und sich mehr oder weniger fremd sind, finden gegen Ende des Buches zusammen. Es sind, trotz der überaus schwierigen Thematik, die meiner Meinung auch zu wenig vorbereitet wurde, versöhnliche Stimmungsbilder, wenn Großmutter, Noras Familie und Abbas‘ Familie gemeinsam beim Essen sitzen.
Im Sinne eines Happy Ends erhält Dorrit als Antagonistin zwar keine Strafe, bekommt von Nora aber ordentlich die Meinung gesagt. Nora hat also, mit dem Rückhalt ihrer Familie, eine innere Stärke entwickelt und zeigt Zivilcourage.
Die Lesenden werden trotz der angesprochenen Problematik mit einem positiven Gefühl aus der Geschichte entlassen, was ich besonders wichtig finde. Also anders als bei Dystopien, die im Jugendalter durchaus Anklang finden.
Noras Entwicklung und ihr Einsatz haben die Romanwelt zu einem besseren Ort werden lassen, was den jungen Leser:innen Hoffnung für ihr eigenes Leben mit auf den Weg geben darf.
Fazit
Kinderromane arbeiten Themen auf, mit denen Kinder konfrontiert werden. Vielleicht verspüren wir als Eltern oder Pädagogen den Drang, Kinder und Jugendliche vor schädlichen Einflüssen zu schützen, was durchaus verständlich und nachvollziehbar ist. Unsere Welt ist komplex und oft genug alles andere als die heile Welt, die wir uns für uns und unsere Kinder wünschen. Spätestens mit Schulbeginn öffnet sich der Horizont der Kinder, erfahren und hören sie von Menschen, die andere Erfahrungen gemacht haben. Auf dem Schulhof schnappen sie Dinge auf, im Radio oder den (Kinder-) Nachrichten. Diese Informationen gilt es aufzuarbeiten und einzuordnen.
Fernab von rosaroten Glitzerwelten oder romantisierten Abenteuerromanen greifen Kinderromane diese Wirklichkeit auf und geben Kindern die Möglichkeit, sich romanhaft mit Themen auseinanderzusetzen und zeigen im günstigen Fall Handlungsmöglichkeiten auf. Wichtig bleibt bei all der möglichen Problematik das positive Ende, das die jungen Lesenden nicht alleine lässt.
Weitere Kinderromane
Beispielhaft führe ich einige Kinderromane auf, die es ermöglichen, sich tiefer mit der Thematik zu befassen.
Peter Pan von James M. Barrie
Emil und die Detektive von Erich Kästner
Pippi Langstrumpf von Astrid Lindgren
Die Omama im Apfelbaum von Mira Lobe
Rico, Oskar und die Tieferschatten von Andreas Steinhöfel
Solltest du noch Fragen zum realistischen Kinderroman haben, dann melde dich gern.
Wow, das ist ein wirklich gelungener Beitrag. Mega. Und ja, ich finde es wie du richtig und wichtig, dass Kinderromane Dinge beim Namen nennen, vielleicht auch mal Themen benennen, die selbst uns Erwachsene schlucken lassen. Kinderbuchromane zu schreiben ist eine extreme Kunst für sich. Man muss die Stimme dazu haben, die Wortwahl und das gelingt so vielen Autor:innen großartig.
Als Eltern hat man ja oft das ‘Problem’, das die Kinder von uns zu bestimmten Themen auch gar nichts hören wollen. Da haben solche Romane schon eine andere Macht und es gibt den Kindern nicht nur die Zeit, sich auch mal alleine mit einem Thema erst auseinanderzusetzen, bevor es dann vielleicht den Weg an den Esstisch der Familie findet. Ich finde das spannend und großartig! Kinder sollten lesen so viel es nur geht 🙂
Kinder sollen lesen. Ja, unbedingt! Und sie sollen lesen, was sie interessiert und was sie möchten. Wenn das dann Comics sind, Fantasy oder rosarote Pferdegeschichten, dann ist das auch völlig in Ordnung und sollte unterstützt werden. Es muss nicht der realistische Kinderroman sein, aber Erwachsene müssen auch keine Angst davor haben, wenn es so ist. Sie können begleiten und Fragen beantworten, wenn sie gestellt werden.
Und das finde ich so toll, dass du das sagst! Ich erinnere mich noch, bei meinem Jüngsten in der Klasse, die Lehrerin war eher so … Comics … na ja. Da steht ja nicht viel, aber sie hat die Kurve dann noch bekommen und meinte schließlich, na ja, Hauptsache lesen. Leider habe ich eher so die typischen Jungs daheim, die nicht gern lesen. Also habe ich vorgelesen bis sie es selbst konnten, so oft ich konnte. Aber leider … mein Jüngster hat sich jetzt ein Buch gewünscht, das hat mich mega gefreut, aber trotzdem ist keiner so eine Leseratte wie ich. Gut, mein Mann hat in seinem Leben auch nicht mehr als vielleicht 10 Bücher wirklich ganz gelesen und kommt auch klar, aber ich fand (und finde) es immer noch so fantastisch in andere Welten einzutauchen in dem man liest und der Kopf eben die Bilder produziert und nicht ein Fernseher oder Computer alles vorgibt. Na ja. What can you do?