Angst vor dem leeren Blatt. Angst vor dem letzten Satz. Angst vor der Überarbeitung, den Testlesenden und zu guter Letzt auch noch vor dem Lektorat. Stopp! Wir wollen die Angst vor der Veröffentlichung und negativen Kritiken nicht vergessen. Ich kenne nur wenige, die sich davon freimachen können. Ängste sind die Dämonen der Schreibenden. Zumindest die Angst vor dem Lektorat möchte ich dir heute nehmen.
Inhaltsverzeichnis
Let me tell you my story …
Wen wird es verwundern, wenn ich sage, dass ich nicht als fertige Lektorin auf die Welt kam. Und überhaupt … Wann ist man eigentlich fertig? Es gibt immer noch etwas zu lernen. Man kann sich immer auf irgendeine Weise und in einem Bereich verbessern und weiterentwickeln.
Als Kind war ich furchtbar schüchtern und ängstlich. Gerade meine Grundschulzeit geriet zum Spießrutenlauf. Unsere Klassenlehrerin Frau Neumann vertrat die Auffassung, dass wir uns mehr anstrengen würden, wenn sie uns vor der gesamten Klasse auf unsere Fehler aufmerksam machte. Jede missglückte Arbeit, Zeugnisse und Fehlverhalten wurden in der Klasse besprochen. 4-Augengespräche gab es nicht. Natürlich traf es alle, den einen öfter als den anderen. Die Strategie war, möglichst unter dem Radar von Frau Neumann zu bleiben.
So fielen die Ermutigungen auf dem Gymnasium, mich doch im Unterricht mehr zu beteiligen, nicht auf fruchtbaren Boden. Das blieb so. Ich wollte nicht im Mittelpunkt stehen, denn die Angst, mich zu blamieren, steckte einfach zu tief.
Noch ein paar Jahre später kam ich zum Schreiben und plötzlich musste ich mich erneut der Kritik anderer aussetzen. Ich erinnere mich an die Frage der Dozentin im Schreibkurs: Wie kritikfähig bist du?
Uff. Am liebsten hätte ich geantwortet: Gar nicht. Aber das wäre ja blöd gewesen! Ich hatte mich für diesen verdammt teuren Kurs entschieden und natürlich war ich dort, um zu lernen. Also antwortete ich mutig: Ich weiß, dass ich nichts weiß, aber ich bin hier, um zu lernen. Diesen Satz hängte ich gut sichtbar auf und bei jedem kritischen Feedback erinnerte ich mich daran, warum ich hier war.
Woher kommt die Angst?
Angst ist ein sehr starkes, unangenehmes Gefühl. Und doch war es in der Steinzeit unser wichtigster Verbündeter. Haben wir Angst, schaltet unser Steinzeitgehirn automatisch in den Überlebensmodus. Unser Körper wird in Alarmzustand versetzt, sodass wir schnell – aber eben unüberlegt – reagieren. Sollen wir kämpfen oder wegrennen? Die Entscheidung wird in Sekundenbruchteilen gefällt.
Noch heute bewahrt uns unser Steinzeithirn vor einigen echt dummen Sachen. Wir rennen nicht ohne zu schauen über die Straße, weil wir nicht unter die Räder des nächsten Autos geraten wollen. Wir gehen regelmäßig zum Zahnarzt, weil wir Angst vor kaputten Zähnen und einer teuren und schmerzhaften Behandlung haben. Wir sagen unserem Chef nicht, wie unglaublich blöd wir ihn manchmal finden, weil wir Angst vor der Kündigung haben und wir danach unsere Rechnungen nicht mehr zahlen könnten.
Ohne Angst wäre Steinzeit–Else dem nächstbesten Säbelzahntiger zum Opfer gefallen und Steinzeit–Horst hätte die schützende Sippe verlassen müssen, weil er sich ohne Angst vermutlich weniger angepasst und sich rüpelhaft verhalten hätte. Über kurz oder lang hätte die Sippe ihn verstoßen. Hallo, Säbelzahntiger!
Wir vermeiden also Handlungen, die Angst auslösen. Wir meiden (vermeintlich) gefährliche Situationen. Dazu gehört auch die tief sitzende Angst, von einer Gruppe ausgeschlossen zu werden. Wir möchten dazugehören, weil es unsere Rückversicherung ist. Wir sind soziale Wesen und “Opfer” unserer biologischen Anlagen. Für unsere Vorfahren hätte der Verstoß aus der Gruppe den sicheren Tod bedeutet.
Kritik ist ganz sicher nicht lebensbedrohlich (ein Lektorat schon gar nicht). Wenn die Kritiken zu deinem veröffentlichten Buch unterirdisch ausfallen, kannst du es in der Regel wieder vom Markt nehmen. Wähle ein neues Pseudonym und du kannst ganz neu starten, wenn du nach der Erfahrung noch immer Lust auf das Abenteuer hast.
Glaubenssätze
Ich liebe dieses Thema. Wir alle haben sie und sie sind oft erschreckend negativ. Wir denken Dinge über uns selbst, die wir niemals so über unsere Freunde sagen würden. Kommt dir einer der Sätze bekannt vor?
- Andere schreiben viel besser als ich.
- Das will doch eh niemand lesen.
- Ich schaffe das nie.
- Ich bin nicht gut genug.
- Ich habe nichts Wichtiges zu dem Thema beizutragen.
Herzlichen Glückwunsch! Dann bist du in bester Gesellschaft. Ich bin in den letzten Jahren wirklich nur einer Handvoll Autoren und Autorinnen begegnet, die dermaßen überzeugt von sich waren, dass sie wie teflonbeschichtet wirkten.
Ängste lähmen uns. Sie hindern uns daran, uns aus der vermeintlichen Sicherheit der Höhle herauszuwagen. Da draußen ist es gefährlich für Steinzeit-Else und natürlich auch für Horst. Und dann finden wir tausende von Ausreden. Warum wir nicht schreiben können. Warum wir nicht überarbeiten können. Warum wir der Lektorin jetzt keine Anfrage schicken … You name it!
Glaubenssätze auflösen
Wenn wir negative Glaubenssätze auflösen, verschwinden auch die Ängste – oder werden zumindest kleiner – und wir vergrößern unseren Aktionsradius.
Wie das geht? Indem wir sie durch einen positiven Satz ersetzen. “Ich bin nicht gut genug” kannst du durch “Ich liebe, was ich tue und ich hole mir Hilfe, um jeden Tag besser zu werden” ersetzen.
Zugegeben, das ist nichts, was von heute auf morgen passiert. Es braucht Zeit. Viel Zeit und Geduld mit dir selbst. Erinnere dich an den Zettel an meinem Schreibtisch. Jedes Mal, wenn ich an meinem Manuskript gearbeitet oder die Aufgaben für den Kurs bewältigt habe, hatte ich ihn vor Augen.
Mit der Zeit konnte ich so meine Einstellung zu Kritik völlig ändern. Konstruktive Kritik, wenn darum gebeten wurde, kann hilfreich und bereichernd sein. Wenn wir reflektieren und überlegen, ob da vielleicht etwas dran ist, kann sie uns ein ganzes Stück nach vorn katapultieren und hilft uns, besser zu werden.
Konstruktive Kritik
Das Problem mit dem Lektorat und auch mit Testlesenden ist Folgendes: Sie bekommen den Text mit einem konkreten Auftrag.
Sie sollen Fehler finden, bevor es die Leser und Leserinnen tun.
Entsprechend dem Auftrag wird nicht mehr zur Entspannung oder Zerstreuung gelesen. Wir lesen das Sachbuch nicht mehr, um etwas Neues zu erfahren. Wir legen den Text unter das Mikroskop. Sezieren und kritisieren und übersehen leider allzu oft die Juwelen, die bereits da sind. Dabei bin ich davon überzeugt, dass es in jedem Text Juwelen gibt. Beschreibungen, die gelungen sind. Überraschende Wendungen, packende Dialoge und treffende Metaphern. Ich mache mir das selbst immer wieder bewusst und versuche auch hier immer wieder einen Kommentar einzufügen. Der Fokus liegt aber klar auf den Dingen, die noch im Argen liegen. Den Rohdiamanten, den es noch zu schleifen und polieren gilt.
Auf der Seite Managementstellen fand ich eine treffende Erklärung, was Feedback ist. Zitat: “Feedback geben bedeutet, den anderen darüber zu informieren, was ich von ihm gehört und/oder gesehen bzw. wie ich ihn erlebt habe und wie dies auf mich wirkt (wie ich es verstanden habe). Feedback ist keine Wertung oder Deutung, keine Interpretation oder Beurteilung, keine Provokation und erst recht kein Vorwurf.” Und weiter: “Dabei ist wichtig, sich bewusst zu sein, dass jede Wahrnehmung selektiv, situativ und subjektiv ist.”
Ein Feedback gibt somit zum einen Informationen an den Empfänger, offenbart aber auch viel über den Feedbackgebenden. So erklärt sich auch, dass Feedback manchmal ganz unterschiedlich ausfallen kann. Was der Eine unglaublich witzig fand, entlockt dem Nächsten nur ein müdes Achselzucken. Eltern sind unglaublich stolz auf ihr Kind, das gerade ein Buch geschrieben hat und loben entsprechend, während der Lektorierende die Zielgruppe im Blick hat und den Rotstift zückt.
Wichtig ist, dass die Kritik konstruktiv und begründend ist und hier können sich die Anmerkungen von Testlesenden und Lektoren schon mal unterscheiden. Ein Testleser schreibt vielleicht: »Die Stelle ist langweilig.« Eine Lektorin würde es so formulieren: »Hier verlierst du dich in der Innensicht der Figur, aber es passiert zu wenig im Außen. Kannst du die Gedanken der Figur in einen Dialog packen und mehr Spannung/Konflikt schüren?« oder »An dieser Stelle passiert viel Innenschau. Wir erfahren aber nicht, wo die Person sich gerade befindet und was sie tut. Sie ist quasi im luftleeren Raum. Kannst du eine Handlung einfügen?«
Beide Anmerkungen sind konstruktiv. Sie bleiben sachlich. Man hätte ja auch kommentieren können: »Also was du hier schreibst, ist das Blödeste, was ich jemals gelesen habe.« Der Testleser beschreibt sein Gefühl. An dieser Stelle hat er sich gelangweilt. Als Lektorin habe ich dasselbe Empfinden, kann aber analysieren, warum das so ist und gebe Hilfestellung, wie sich die Passage verbessern lässt.
Eine dieser teflonbeschichteten Autorinnen erklärte mir einmal, dass weniger doch mehr ist. Offenbar war sie der Meinung, dass ihr Text zu rot und mit zu vielen Kommentaren aus dem Lektorat zurückkam. Es ist natürlich schmeichelhaft, wenn auf jeder Seite nur 2 – 3 Lektoratsanmerkungen stehen. Ich persönlich würde mich dann jedoch fragen, ob der Lektorierende ganz bei der Sache war. Schade um das Geld! Oder du bist Sebastian Fitzek, aber selbst der hat noch ein Lektorat im Rücken. Was mich gleich zur nächsten Angst führt …
Das Lektorat macht eine andere Geschichte daraus!
Eine häufige Angst und ebenso häufig unbegründet. Ein Lektorat stärkt dir den Rücken oder vielmehr stehen Lektoren und Lektorinnen “ihren” Autoren beratend zur Seite. Sie sind Verbündete, die das Beste für den Text im Blick haben. Natürlich kann es passieren, dass im Lektorat Szenen gestrichen werden. Sogar Figuren können verschwinden, weil sie nicht zur Handlung beitragen. Wenn du nicht gerade “Das doppelte Lottchen” schreibst, dann sind zwei Mädchen, die Lisa und Lina heißen, beide Zöpfe tragen und noch dazu Zwillinge sind, keine besonders gute Idee.
Zumindest im Selfpublishing vertrete ich die Auffassung, dass es IMMER die Geschichte der Autoren ist und bleibt. Natürlich sage ich dir, wenn ich der Auffassung bin, dass die 30 Seiten Landschaftsbeschreibung getrost gestrichen werden können – genauso wie eine der beiden Lisels. Die letzte Entscheidung liegt aber bei dir. Wenn 80 – 90 % meiner Vorschläge akzeptiert und angenommen werden, bin ich schon ganz zufrieden. 🙂
Im Verlagswesen sieht das ein wenig anders aus. Verlage können auf Änderungen bestehen und tun das in der Regel auch, weil sie sich dadurch größere Marktchancen ausrechnen. Immerhin tragen sie das finanzielle Risiko.
Keine Angst vorm Lektorat
Jetzt hast du deine Geschichte also doch ins Lektorat geschickt. Keine Sorge. Das flaue Gefühl im Magen gehört dazu. Jetzt musst du dich gedulden und warten. Wenn es dann endlich aus dem Lektorat zurückkommt, wirst du rot sehen. Hunderte, tausende von Kommentaren. Markierungen. Umgestellte Sätze … dir wird ganz schwindelig und schließt rasch das Dokument. Wie zum Henker soll daraus etwas werden? Wie sollst du die ganzen Anmerkungen durchgehen und die Stellen verbessern? Das wird niemals was! Am besten gleich in den Papierk…
HALT!
Bevor du etwas Unüberlegtes tust, lies erst einmal den Text in der E-Mail. Ich schicke dir nämlich niemals einfach nur eine Datei zurück. Ich schreibe dir auch, was gut war und falls es einen großen Knackpunkt gab, welcher das ist. Es ist quasi eine Art Zusammenfassung und Gesamtüberblick. Viele Kollegen und Kolleginnen arbeiten ebenfalls so. Manche schicken den Begleittext auch in einer separaten Word-Datei.
Danach hast du schon einen guten Überblick. Du kannst dich also beruhigen. Ganz so schlimm ist es nicht. Schlaf darüber. Wenn es sein muss, auch eine ganze Woche und dann gehe mit frischem Blick an die Überarbeitung. Schritt für Schritt, Kommentar für Kommentar näherst du dich deinem Ziel – auch wenn es sich manchmal so anfühlt, als würdest du auf der Stelle treten.
Und wenn du Fragen hast – ich bin immer für dich da.